Die Frage nach biologischem und sozialem Geschlecht in Erhebungen
Die meisten Fragebögen in den Sozial- und Gesundheitswissenschaften, in Bauwesen, Städteplanung usw. enthalten eine demographische Frage über biologisches oder soziales Geschlecht. Traditionell fordern die Erhebungspunkte über biologisches oder soziales Geschlecht die Auskunftspersonen auf, anzugeben, ob sie männlich oder weiblich sind (Kasten 1). Diese Methode wurde allerdings dahingehend kritisiert, dass sie die Komplexität von geschlechtlichen Identitäten nicht erfasst. Die Zusammenfassung von Geburtsgeschlecht und Genderidentität in Fragebögen kann die Präzision und Relevanz von Erhebungsforschung für Maßnahmenentwicklung und Innovation einschränken.
Kasten 1. Die einstufige Methode (Beispiel)
Das Beispiel stammt aus dem American National Election Survey 2008-2009 (Westbrook & Saperstein, 2015)
In einer Besprechung von wichtigen US-amerikanischen Sozialerhebungen stellten Westbrook & Saperstein (2015, S. 535) fest, dass die derzeitige einstufige Methode dazu tendiert, „biologisches und soziales Geschlecht zusammenzufassen und den daraus entstehenden begrifflichen Wirrwarr als strikt dichotomisches, biologisch feststehendes und empirisch offensichtliches Merkmal zu behandeln.“ Erhebungen, die mit der einstufigen Methode arbeiten, verwenden biologisches und soziales Geschlecht meist als synonyme Begriffe oder geben nicht näher an, auf welchen der beiden Begriffe sich die Frage bezieht (Kasten 1). Überdies geht diese Methode von einer Übereinstimmung zwischen dem Geburtsgeschlecht und der aktuellen Genderidentität der Auskunftsperson aus, die es in der Auswertung der Erhebung unmöglich macht, zwischen Cisgender- und Transgender-Populationen zu unterscheiden (s. Begriffe: Biologisches und Soziales Geschlecht).
Einstufige Methoden beschränken die verfügbaren Antwortmöglichkeiten auch meist auf einander ausschließende binäre Kategorien (weiblich/männlich, Frau/Mann) (Westbrook & Saperstein, 2015). Dadurch perpetuieren sie implizit stereotype Konzeptionen von biologischem und/oder sozialem Geschlecht und machen genderdiverse Individuen unsichtbar, die sich nicht mit den Kategorien weiblich/männlich und Frau/Mann identifizieren.
Zur Behebung dieser Defizite entwickelten Forscher_innen eine zweistufige Methode, die Geburtsgeschlecht und aktuelle eigene Genderidentität getrennt abfragt (Fraser, 2018; Deutsch et al., 2013; GEnIUSS Group, 2014; Melendez et al., 2006). Die zweistufige Methode wurde in Transgender-Populationen getestet und in breiteren nordamerikanischen Populationen validiert, beides mit guten Resultaten (GenIUSS Group, 2014; Magliozzi et al., 2016; Reisner et al., 2014; Saperstein & Westbrook, 2018; Tate et al., 2013).
Diese Methode (Kasten 2) bietet mehrere Vorteile. Sie ermöglicht es Erhebungsforscher_innen, indirekt eine Transgender-Identität abzuleiten, wenn das Geburtsgeschlecht einer Auskunftsperson nicht der berichteten Genderidentität entspricht (z. B. wenn eine Auskunftsperson in der Geburtsgeschlechtsfrage „männlich“ ankreuzt und bei der Genderidentitätsfrage „Frau“) (Magliozzi et al., 2016). Zudem erweitert sie die Zahl der Antwortoptionen, die Auskunftspersonen in der Erhebung zur Verfügung stehen. Zusätzlich zu den Antwortkategorien „weiblich“ und „männlich“ enthält die Geburtsgeschlechtsfrage in Kasten 2 „zwischengeschlechtlich“ und „Geschlecht hier nicht aufgelistet“ (mit einer offenen Antwortmöglichkeit). In ähnlicher Weise umfasst die Genderidentitätsfrage „nicht-binär“, „gender-queer“ und „Genderidentität hier nicht aufgelistet“ (mit offener Antwortmöglichkeit) als mögliche Auswahl.
Kasten 2. Die zweistufige Methode
Nach Magliozzi et al. (2016) und GenIUSS Group (2014)
Hier ist zu beachten, dass die Antwortoptionen für das Geburtsgeschlechts die biologischen Begriffe „weiblich“ und „männlich“ enthalten, während die Frage nach der aktuellen Genderidentität die sozialen Geschlechtsbegriffe „Frau“ und „Mann“ auflisten (Kasten 2). Diese begriffliche Unterscheidung ist wichtig, weil sie hilft, den Auskunftspersonen den begrifflichen Unterschied zwischen Geburtsgeschlecht und aktueller Genderidentität zu signalisieren (s. Begriffe: Biologisches und Soziales Geschlecht). Allerdings ist diese Unterscheidung in Sprachen nicht möglich, die für das biologische Geschlecht und die soziale Geschlechtsidentität nur einen Begriff kennen. Zum Beispiel haben Dänisch, Norwegisch und Schwedisch keine getrennten Begriffe für biologisches Geschlecht und soziale Genderidentität und unterscheiden auch nicht zwischen den biologischen Begriffen „weiblich“ und „männlich“ und den sozialen Geschlechtern „Frau“ und „Mann“. Erhebungsforscher_innen in diesen Ländern können allerdings dennoch den zweistufigen Zugang mit Geburtsgeschlecht und aktueller Genderidentität anwenden.
Personen, die sich nicht mit binären Geschlechterkategorien (Frau oder Mann) identifizieren, können eine große Bandbreite an Begriffen benutzen, um ihre Genderidentität auszudrücken (z. B. non-binär, genderqueer, nicht genderkonform, agender) (Factor & Rothblum, 2008; Magliozzi et al., 2016; Scheuderman et al., 2019). Die Bedeutung und Häufigkeit dieser Genderausdrücke verändert sich tendenziell im Laufe der Zeit und variiert je nach Sprache und kulturellem Kontext (Factor & Rothblum, 2008; GenIUSS Group, 2014; Jans et al., 2015).
Daraus ergibt sich für Erhebungsforscher_innen eine Herausforderung: Egal wie viele Antwortoptionen eine Erhebung anbietet, sie wird nie die ganze Bandbreite der geschlechtsspezifischen Selbstdarstellungen abdecken können (Magliozzi et al., 2016). Diese Herausforderung kann durch die Aufnahme von offenen Antwortoptionen gelöst werden (Kasten 2). Um allerdings aussagekräftige statistische Vergleiche zu ermöglichen, kann es bei der Auswertung notwendig sein, derartige offene Ausdrücke in breiteren Kategorien zusammenzufassen, bevor die Daten analysiert werden (Magliozzi et al., 2016).
Daten von Auskunftspersonen, die sich nicht mit binären Geschlechterkategorien oder als Intersex-Individuen identifizieren, sollten nicht einfach aus der Auswertung getilgt, sondern nach einem im Voraus geplanten Protokoll bearbeitet werden. Um aussagekräftige statistische Auswertungen zu ermöglichen, sollten Forscher_innen in Betracht ziehen, nicht-binäre und Intersex-Personen im Datensammlungsprozess überdurchschnittlich zu berücksichtigen (Methoden: Analyse des sozialen Geschlechts in Gesundheit und Biomedizin, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster; Analyse des biologischen Geschlechts in der Biomedizin, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).
Seit Kurzem gibt es Forschungen zu feinfühligeren multifaktoriellen Messmethoden für das soziale Geschlecht in Erhebungsfragebögen (Magliozzi et al., 2016; Nielsen et al., 2021; Pilote et al., 2014; Saperstein & Westbrook, 2018). Die Verwendung derartiger Messungen könnte ein präziseres Wissen über spezifische geschlechtsbezogene Einstellungen und Verhaltensweisen ermöglichen (s. Fallstudie: Gendervariablen für medizinische Forschung, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).
Fallstudien
G, öffnet eine externe URL in einem neuen Fensterendervariablen für medizinische Forschung/Gender-Related Variables for Health Research, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster
Hochwertiger urbaner Raum/Quality Urban Space, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster
Smarte Energielösungen/Smart Energy Solutions, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster
Smarte Mobilität/Smart Mobility, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster
Deutsch, M. B., Green, J., Keatley, J., Mayer, G., Hastings, J., Hall, A. M., ... & Blumer, O. (2013). Electronic medical records and the transgender patient: recommendations from the World Professional Association for Transgender Health EMR Working Group. Journal of the American Medical Informatics Association, 20(4), 700-703.
Factor, R., & Rothblum, E. (2008). Exploring gender identity and community among three groups of transgender individuals in the United States: MTFs, FTMs, and genderqueers. Health Sociology Review, 17(3), 235-253.
Fraser, G. (2018). Evaluating inclusive gender identity measures for use in quantitative psychological research. Psychology & Sexuality, 9(4), 343-357.
GenIUSS Group (2014). Best practices for asking questions to identify transgender and other gender minority respondents on population-based surveys. Los Angeles: Williams Institute.
Jans, M., Grant, D., Park, R., Kil, J., Viana, J., Lordi, N., ... & Herman, J. L. (2015). Using verbal paradata monitoring and behavior coding to pilot test gender identity questions in the California Health Interview Survey: the role of qualitative and quantitative feedback. In Proceedings of the American Association for Public Opinion Research Annual Conference.
Magliozzi, D., Saperstein, A., & Westbrook, L. (2016). Scaling up: Representing gender diversity in survey research. Socius, 2, 1-11.
Melendez, R. M., Exner, T. A., Ehrhardt, A. A., Dodge, B., Remien, R. H., Rotheram-Borus, M. J., ... & National Institute of Mental Health Healthy Living Project Team. (2006). Health and health care among male-to-female transgender persons who are HIV positive. American Journal of Public Health, 96(6), 1034-1037.
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Nielsen, M. W., Stefanick, M. L., Peragine, D., Neilands, T. B., Ioannidis, J. P., Pilote, L., ... & Schiebinger, L. (2021). Gender-related variables for health research. Biology of sex Differences, 12(1), 1-16.
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Reisner, S. L., Conron, K., Scout, N., Mimiaga, M. J., Haneuse, S., & Austin, S. B. (2014). Comparing in-person and online survey respondents in the US National Transgender Discrimination Survey: Implications for transgender health research. LGBT Health, 1(2), 98-106.
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