Tomsk Polytechnic University, Russland, Sommersemester 2016/17
Falk Mehl
1. Blogeintrag: Ausgerechnet Sibirien!
Bevor man sich auf ein Auslandssemester an der TPU in Tomsk einlässt, sollte man zu aller erst seine Prioritäten klären:
- Wie wichtig sind überhaupt Temperaturen über -30°C?
- Wie wichtig ist ein geordneter und planbarer Tagesablauf?
- Und wie wichtig ist es, dass man im größten internationalen Flughafen Russlands auch auf Englisch Auskunft bekommt?
Am Tag meiner Ankunft Mitte Januar hatte es -37°C. In Russland genau der richtige Zeitpunkt für eine Stadtrundführung mit atemberaubendem Panorama über den gefrorenen Fluss Tom und die sibirische Weite.
Glücklicherweise wird es aber Tag für Tag wärmer, so dass man ab Mitte Februar ziemlich sicher dauerhaft mit über -30°C rechnen kann.
Allein das Visum zu bekommen ist schon ein abwechslungsreiches Unterfangen mit viel Spannung, Höhen und Tiefen, und wie bei jeder guten Geschichte mit einem Happy End. Dabei lernt man schon einiges dazu: übertriebene Höflichkeit hat am Arbeitsplatz nichts zu suchen, eine straffe Miene signalisiert, dass die Arbeit ernst genommen wird.
Des Weiteren kommt man früher oder später in die Verlegenheit nach einem Dokument, einer Kennnummer oder Referenz gefragt zu werden, wovon man noch nie gehört hat, doch nach einer kurzen oder etwas längeren Beratung auf Russisch, sind sich die Damen hinter dem Schalter einig, dass es doch nicht so wichtig ist und es zumindest vorerst auch ohne geht. Überhaupt sind Dokumente ein eigenes Thema, man sollte rechtzeitig eine eigene Mappe dafür eröffnen, um immer gewappnet zu sein - Dokumente auf Englisch sind dabei wertlos, anerkannte Dokumente sind ausschließlich auf Russisch oder Deutsch.
Mit dem wenige Tage vor Abflug erstandenen Visum kommt man bei einem Flug nach Sibirien nicht um eine Zwischenlandung an einem der Flughäfen Moskaus herum. Auch hier ist Geduld der Schlüssel zum Erfolg. Beim Anstehen am Einreiseterminal kann man die Zeit nutzen, den Kleidungsstil der mitreisenden Russen zu studieren, denn Pelzmantel, Mütze und co. werden auch bei +20° im Flughafen nicht unbedingt abgenommen. Alternativ kann man auch nochmal wichtige Vokabeln in und ums Reisen wiederholen um die Erfolgschancen bei der Suche nach dem richtigen Ausgang zum Anschlussflug zu erhöhen. Man kann zwar auf Englisch nachfragen, höchstwahrscheinlich wird man dann aber zunächst zu einem anderen Schalter geschickt, wo jemand sitzt der einem zeigen kann, wo vielleicht jemand ist der bereit ist Englisch mit einem zu sprechen. Ob der oder diejenige dann auch weiterhelfen kann, ist aber nicht gesetzt... Wesentlich effizienter ist es noch während dem Warten einen der umstehenden Russen zu fragen. Mit etwas Glück weiß er die Antwort und man kann sich über das Woher und Wohin austauschen und seine Russischkenntnisse auf die Probe stellen.
Mit diesem Erfolgserlebnis im Rücken kann man sich im Anschlussflug voller Vorfreude zurücklehnen und den nach der Mahlzeit servierten Tee mit russischem Teegebäck genießen, während die aufgehende Sonne erste Blicke auf das grün und weiß gefleckte Sibirien erlaubt.
Im nächsten Blog "Pelzmütze oder Badehose" über Eiswassertaufe und das Wohnheim
Lust auf russisch? Sehr empfehlenswert für Anfänger:
http://www.russlandjournal.de/russisch-lernen/podcast, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster
Lust auf Sibirien? Toller Film mit viel Wahrem dran:
https://www.youtube.com/watch?v=2GjRc6pFrL0, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster
2. Blogeintrag: Pelzmütze oder Badehose
Nach einigen Wochen in Tomsk gewöhnt man sich an, seine Schapka (Mütze) schon VOR dem Verlassen des Gebäudes aufzusetzen, um die skeptischen Blicke der Sibirer zu vermeiden. Denn wie ein sibirisches Sprichwort besagt ist nicht ein echter Sibirer wer nicht friert, sondern wer sich richtig warm anzieht. Mitte Januar ist Tomsk ein wahres Winterwunderland, geschmückt mit beleuchteten Eisskulpturen, Lichterketten in den Bäumen und immer weißem Schnee. Da um diese Jahreszeit kaum Menschen auf der Straße sind, hat man Plätze wie die Auferstehungskirche, die Eisrutschen im Stadtpark oder den Birkenwald um das Kriegsdenkmal für sich allein.
Vor Semesterbeginn empfiehlt sich der dreiwöchige Sprachkurs an der TPU. Hier lernt man nicht nur die Sprache, sondern auch einiges über Kultur und den Alltag in Tomsk im Rahmen von organisierten Exkursionen. So hat man zum Beispiel am 19. Januar die Möglichkeit Krischenie beizuwohnen. Dabei handelt es sich um eine Tradition im russisch orthodoxen Christentum, bei der man, unabhängig von Wetter und Außentemperatur, wortwörtlich ins kalte Wasser springt und mindestens drei Mal ganz untertaucht. Viele Tomsker versammeln sich dazu am Weißen See, es riecht nach heißem Tee und im Hintergrund läuft orthodoxe Kirchenmusik. Um die Löcher im Eis wird Stroh ausgelegt, damit die Füße nicht am Eis festfrieren und aus den beiden Zelten eilen mutige Männer und Frauen zu den Eislöchern zur Krischenie.
Vom Wohnheim der TPU erreicht man in zwei Minuten die Brauerei Krüger mit gemütlichem Lokal, wo man für umgerechnet 1,60 EUR ein frisch gezapftes Tomsker Bier bekommt. In 5 Minuten Gehzeit erreicht man ein weiteres deutsches Lokal und einen Irish Pub sowie einen russischen Night Club, wobei die russische Clubmusik für europäische Ohren etwas gewöhnungsbedürftig ist. Auch die meisten Unigebäude sind innerhalb 5-10 Minuten Gehzeit zu erreichen.
Wenn man das Wohnheim mal nicht verlassen möchte, hat man einen eigenen Kühlschrank im Zimmer und eine täglich geputzte Küche im Stockwerk zur Verfügung, um beispielsweise Blinni mit Smetana - russische Pfannkuchen mit Schmand - zuzubereiten. In einem der zahlreichen kostengünstigen aber höchst interessanten Kochkursen lernt man aber auch wie man die Blinni zu einem Kringel rollen und mit Kaviar füllen kann. (Der Putzservice putzt nicht nur die Küche, sondern auch die Zimmer und wechselt wöchentlich die Bettwäsche). Der einzige Nachteil hier ist die Leistungsstärke des hausinternen Heizungssystems. Da man den Heizungsgriff vergeblich in alle Richtungen drehen kann, bleibt am Ende des Tages nur die Wahl zwischen Minze-Pinien- oder Orange-Kiefer Aufguss. (Angeblich soll bei -20°C Außentemperatur aber auch Öffnen der Fenster Abhilfe schaffen.)
Wer mehr zu meinem Eisbad im weißen See in Tomsk wissen will, kann hier nachlesen: http://news.tpu.ru/news/2017/01/01/26536/, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster.
Im nächsten Blog: "Whatsapp my Prof." über den Unialltag an der TPU.
3. Blogeintrag: Unialltag an der TPU
Durch den dreiwöchigen Intensivkurs vor Semesterbeginn erhält man einen groben Überblick über all das, was man über Russland und die russische Sprache noch nicht weiß. Das Gute daran ist, man muss die kommenden 5 Monate nicht mit Schäfchen zählen und Däumchen drehen verbringen. An der TPU gibt es ein umfassendes Sprachzentrum, wo man in 5 Doppelstunden pro Woche intensiven Sprachunterricht in Kleingruppen erhält. Da das Ganze an der Uni stattfindet, muss man dafür nicht bezahlen, sondern erhält dafür sogar satte 6 ECTS. Aber kann man mit den ECTS in Österreich überhaupt etwas anfangen, und wie sieht es eigentlich mit den technischen Kursen aus?
Schon im Vorfeld kann man sich nicht nur die Wohnheime der TPU, sondern auch die umfangreichen Kurslisten (der auch auf Englisch angebotenen Kurse) ansehen: http://portal.tpu.ru/ciap_eng/, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster. Dann sucht man sich äquivalente Lehrveranstaltungen an der TU Wien zu den gewählten Kursen, lässt das ganze vom Dekanat abstempeln und unterschreiben und fertig? Naja, fast. Da sich die technischen Austauschstudenten nicht nur in Bachelor und Master, sondern auch in ihren Fachbereichen Chemie, Informatik, Maschinenbau etc. unterteilen, ist die Anzahl der Kursteilnehmer in einem konkreten Kurs meist sehr gering. Sehr gering heißt ca. zwei bis vier Studenten. Daher kann es zu Kursausfällen und Verschiebungen kommen und so beginnt das muntere Stundenplan Bingo. Am besten tauscht man also in der ersten Stunde mit dem Professor die Nummern aus und kommuniziert etwaige Terminkollisionen per Whatsapp. Alles also kein Problem, der Stundenplan wird dann iterativ über das Semester hinweg individuell angepasst. Die Kurse an der Uni sind einigermaßen anspruchsvoll, lassen aber auch angemessen Freizeitaktivitäten zu. Direkt neben dem Wohnheim befindet sich das Sportzentrum der TPU wo verschiedenste Sportarten angeboten werden, auch Fitnesszentren gibt es ausreichend in der Umgebung. Und falls einem mal alles zu viel wird empfiehlt sich ein Spaziergang am gefrorenen Tom, um in der Abendsonne die Weite und Ruhe Sibiriens zu genießen.
4. Blogeintrag: Filzmütze und Birkenquast
Was man sich in Sibirien auf keinen Fall entgehen lassen sollte, ist der Besuch einer russischen Sauna, der Banja! Vor allem wenn man in Sibirien ist - im Winter. Die Banja ist ein Rundumevent, für das man gut einen halben Tag einplanen sollte - oder auch sehr empfehlenswert: eine halbe Nacht.
Im Wald, etwas außerhalb des Stadtlebens, befindet sich dann die Banja. Schon die Anfahrt mit dem Taxi ist ein Erlebnis. Eine halbe Stunde Taxifahrt kostet hier umgerechnet ca. 3-4 EUR. Eigentlich gibt es in Russland keine starken Dialekte, sodass man von Moskau bis Wladiwostok Lehrbuchrussisch gesprochen wird - außer man kommt in das Vergnügen einer russischen Taxifahrt, hier wird vom Taxifahrer Russisch gesprochen, ein schwer verständliches Kauderwelsch. Die Taxis sind oft mit LED Elementen in Farbkombinationen geschmückt - die verboten gehören. Es läuft russische Rapmusik und durch die gesprungene Windschutzscheibe kann man im Licht des einen Scheinwerfers schließlich einige Holzhäuser am Ende des Waldwegs erkennen.
Vor dem Beginn der Banja sollte man unbedingt einen „Wenik“ erwerben. Der Wenik ist ein Birkenreisigbüschel mit dem man sich in der Banja gegenseitig durch Hiebe auf den Rücken und die Beine Entspannung verschafft. Um das Erlebnis Banja zu vervollständigen, sollte man in der Banja einen Filzhut tragen. Die Hitze in der Banja ist sehr feucht und die Hüte sollen vor Überhitzung schützen. Naja mit Sicherheit vor Überhitzung schützt, ist anschließend im Kaltwasserbecken ein Bad zu nehmen. Danach kann man in der warmen Stube mit Kaviarbrötchen und Bier oder Tee entspannen.
Eine wesentlich actionreichere Freizeitbeschäftigung hingegen, ist eine Fahrt mit dem Schneemobil. Mit knapp 80PS unterm Sattel kann man frei durch die verschneite Wildnis touren. Die Höchstgeschwindigkeit wird vor allem durch Natur und Fahrermut festgelegt, es geht immer mehr!
Im nächsten Blog „Babuschka, Matruschka & Maschrutka“ über die kulturellen Freizeitmöglichkeiten in Tomsk.
5. Blogeintrag: Babuschka, Matroschka & Maschrutka
In Tomsk stößt man immer wieder auf interessante und teils sonderbare Denkmäler, oftmals an völlig unerwarteten Stellen. Die Geschichten dahinter sind oft sehr interessant, wie die der Pantoffeln vor dem Bahnhof, das Baby im Kohlkopf und das Tschechov Denkmal ohne Schuhe.
Im Laufe des Semesters lernt man die Stadt immer besser kennen, und wenn die Prüfungen dann anstehen, weiß man schon an welchem Denkmal man reiben muss, um dabei Erfolg zu haben.
Was man nicht auf eigene Faust erkunden kann, erlebt man dann mit dem Buddy Building Club. Die Buddies organisieren Führungen im botanischen Garten, Matroschken-Bemalen im Museum slawischer Mythologie und Wochenendausflüge in die Umgebung - wobei Umgebung vier Stunden Busfahrt in die nächste Stadt, Novosibirsk, bedeuten kann, wo man die Oper, in der zu Kriegszeiten sowjetische Kunstobjekte vor den Nazis versteckt wurden, besuchen kann. Wesentlich kleiner, aber auch besonderer, ist das im Wäldchen am Fluss Tom versteckte Holztheater.
Hier ist alles handgeschnitzt und bis ins letzte Detail mit Liebe belebt - die kleinen und bis zu lebensgroßen Holzfiguren bewegen sich und reden in allen Ecken und Enden des kleinen Theaters. Erst wenn der kleine bärtige Mann die Bühne betritt, tritt Schweigen ein. Wie Gepetto mit Pinocchio schafft er es, nur einer Handpuppe und einigen wenigen Requisiten, seine Zuschauer in Märchenwelten, wie die des kleinen Prinzen zu entführen.
Aber um nochmal auf die Matroschken zurück zu kommen, sind das nicht eigentlich Babuschkas? Die Holzfiguren in denen Holzfiguren in denen Holzfig… naja, und so weiter. Also offiziell heißen diese Figuren Matroschka, Symbol der Familie und beliebtes Geschenk auf Hochzeiten.
Allerdings ist auch die Bezeichnung Babuschka nicht ganz falsch, denn Babuschka heißt Oma, was mindestens genauso passend ist. Im traditionellen Sarafan, in welchem die Matroschken bemalt werden, kleiden sich oft auch die Babuschkas in den Maschrutken - also die älteren Damen, die für die Fahrer der kleinen Busse die den öffentlichen Nahverkehr bilden das durchgereichte Kleingeld entgegennehmen. Und auch wenn man ganz hinten im Bus, der Maschrutka, steht, kann man sicher sein, dass auch die zwei Rubel (etwa 3-4ct) Rückgeld von den anderen Passagieren wieder sicher nach hinten durchgereicht werden. Das Zauberwort hier heißt „peredadte, paschaluista“ - geben Sie bitte weiter.
Im nächsten Blog „Hurra, hurra der Lenz ist - nein, doch nicht“ über den wechselhaften Frühling und die Flussschmelze in Sibirien.
6. Blogeintrag: Hurra, hurra der Lenz ist - nein, doch nicht.
Frühlingsfrühwarnvorrichtung, Schritt 1: Wasser bis zum Kochen erhitzen. Schritt 2: Wasser aus dem Fenster im sechsten Stockwerk* schütten.
Beobachtung: anstatt sich wie gewöhnlich nach wenigen Metern in einen Nebel aus Eiskristallen aufzulösen, der vom Wind fort getragen wird, trifft das Wasser unverändert am Boden auf und frisst sich in den Schnee. Fazit: Der Frühling naht! Das Geräusch von selbst startenden Motoren geparkter Autos verschwindet von den Straßen, da für das Motoröl über -10°C keine Gefahr mehr besteht zu erstarren.
Dafür erklingt nun auf den Bürgersteigen der Stadt der Rhythmus dicker Eisenstangen, die auf die bis zu 40cm dicke Eisdecke auf dem Boden treffen. Die Tomsker wissen, wenn sie das Eis jetzt nicht losschlagen und auf LKWS aus der Stadt bringen, schwimmen sie in wenigen Wochen in einer 40cm dicken Schicht aus Eismatsch. Immer öfter wird die 0°C Marke überschritten, und so bilden sich an vielen Stellen morgens spiegelglatte Eisflächen auf dem Bürgersteig, wo am Vorabend noch das Schmelzwasser von den Dächern und umliegenden Schneebergen floss.
So wie wir in Mitteleuropa vielerorts auf weiße Weihnachten hoffen, uns um den vierten Advent dann über den lang ersehnten Schneefall freuen, nur um am Heiligabend dann durch eine graue Matschschicht enttäuscht zu werden, so ungefähr verhält es sich auch in Sibirien mit den grünen Ostern. Wenigstens ist der Fluss pünktlich zum Ostersonntag der russisch-orthodoxen Ostern, die in diesem Jahr mit den christlichen Ostern zusammenfallen, geschmolzen. Schon am Karfreitag wurden die ersten eisfreien Stellen am Ufer von Anglern besetzt, und einen Tag später bietet sich dann erstmals der unglaubliche Anblick des eisfreien Toms - naja, zumindest im Süden der Stadt, vor der Flussbiegung an der Brücke, im Zentrum und Norden Tomsks ist die Eisdecke noch geschlossen. Das Naturschauspiel der langsam wandernden scharfen Schmelzkante zwischen fließendem Gewässer und geschlossener Eisdecke lockt viele Schaulustige am Ostersamstag an die Flussbiegung hinter der Brücke. Am nächsten Morgen fließt der Tom dann durch ganz Tomsk, als wäre er nie zugefroren gewesen. In Tomsk werden Straßenmarkierungen und Zebrastreifen neu aufgemalt, angerostete Geländer die ein halbes Jahr von Eis und Schnee bedeckt waren werden neu lackiert, und an den Straßenecken sitzen Babuschkas und verkaufen Kwass, den süßen Brottrank, aus kleinen Wägelchen. Am 9. Mai, dem Tag des Sieges, verabschiedet sich der Winter während der Militärparade mit einem letzten weißen Gruß aus Tomsk. Naja, vorerst. Eine Woche später schneit es wieder dicke Flocken und 5cm Neuschnee liegen über der Stadt. So richtig kann sich der Winter aus Sibirien wohl nicht verabschieden.
Noch etwas, das erschreckend eindrücklich unser Glück in Frieden zu leben demonstriert, ist was nach der Militärparade am 9. Mai folgt.
Bürger, die Angehörigen und Vorfahren an den Krieg verloren haben, tragen Schilder mit Abbildungen und Jahreszahlen ihrer Verlorenen und folgen der Parade in einem erschreckend langen, nicht enden wollenden, stillen Marsch. Um Mitternacht gibt es dann ein überragendes Feuerwerk auf das Kriegsende bei Vollmond am Flussufer. Ein Hoch auf den Frieden!
*das sechste Stockwerk in Russland entspricht dem 5. Stock/OG in Westeuropa, da man in Russland das Gebäude bereits in der ersten Etage betritt.
7. Blogeintrag: Einmal Baikal und zurück
Russland ist groß – verdammt groß. Tatsächlich ist schon Sibirien alleine so gigantisch, dass das zweitgrößte Land der Welt, Kanada, bequem darin Platz hätte, und es wäre immer noch genügend Platz für ein Land wie Mexiko. Dazu mal ein Beispiel:
Von Tomsk aus kann man bequem die größten Länder Zentralasiens bereisen: In etwa 1300 km erreicht man China oder die Mongolei und nach Kasachstan sind es nur knapp 800 km. Verreist man aber innerhalb Sibiriens muss man eine mehr als doppelt so lange Reise auf sich nehmen, wenn man beispielsweise an den Baikalsee fährt!
Die engagierten Studenten vom Buddy Building Network organisieren das ganze Semester über Partys, Veranstaltungen und Exkursionen für die Austauschstudenten – absolutes Highlight, die Fahrt an den Baikalsee! Wenn man den Baikalsee in Worte fassen möchte, sollte man sehr sattelfest in der Anwendung des Superlativs sein - nach vier Monaten in Sibirien aber kein Problem: Der Baikalsee ist der tiefste, älteste und größte (Wasserinhalt) Süßwassersee der Welt. Er enthält ein Fünftel der weltweiten Süßwasserreserven, so viel wie die fünf Great Lakes zusammen, und benetzt eine Fläche größer als Belgien. Für etwa 25€ bekommt man das günstigste Ticket für die etwa 30-stündige Fahrt in der transsibirischen Eisenbahn von Tomsk nach Irkutsk. Allerdings teilt man sich den sogenannten Platzkart Wagon mit 53 anderen Passagieren. Irgendwo riecht es immer nach Wurst und Käse, es ist stickig und aufgrund der kurzen Betten ragen viele Füße in den Gang, vor allem bei den oberen Betten auf Kopfhöhe nicht sehr angenehm. Besonders romantisch ist die Fahrt in der berühmten transsibirischen Eisenbahn also nicht, und auch an die Aussicht auf die Taiga gewöhnt man sich nach einigen Stunden. Aber in der richtigen Gesellschaft mit Karten und nichtetikettiertem Bier lässt sich die Zeit gut verbringen. Von Irkutsk aus kommt man im Bus noch weitere 5 Stunden in den Genuss russischer Straßenbaukunst bevor man endlich die Insel Olchon, den schönsten Ort am Baikalsee, erreicht. Die frische Luft, unberührte Natur und der Sonnenuntergang, der die letzten Eiskristalle die wie crushed-ice auf dem weltgrößten Cocktail treiben in allen erdenklichen orange und rot Tönen aufleuchten lässt, all das ist die lange Reise wert. Die Eindrücke von Olchon lassen sich kaum in Worte fassen.
Auf der Rückfahrt von Irkutsk nach Tomsk lohnt es sich definitiv einen Tag in Krasnojarsk zu verbringen. Die Stadt hat ein schönes Zentrum, leckere Restaurants und liegt direkt am Stolby-Nationalpark. Man sollte sich nur eine Multizeitanzeige einrichten, denn alle An- und Abfahrtszeiten der Züge richten sich nach Moskauzeit. Daher sollte man mindestens die beiden Zeitzonen der Abfahrts- und Ankunftsorte sowie natürlich Moskau parat haben, um ein Chaos bei der Weiterreise zu vermeiden.
8. Blogeintrag: „Sommer Sonne Semesterende“
Durch die persönliche Atmosphäre in den zwei bis vier Studenten starken Kursen gestaltet sich der Semesterabschluss relativ stressfrei. In vielen Kursen wird statt einer Prüfung eine Abschlussarbeit oder ein Projekt gefordert, was durch die enge Zusammenarbeit mit den Professoren meist zu einem ausgezeichneten Resultat führt. Durch die Bemühungen der internationalen Büros in Tomsk und Wien ist auch die Anrechnung der ECTS am Dekanat kein Problem.
Der Sommer ist in Sibirien fast genauso extrem wie der Winter. „Duschna“ nennt man im Russischen ironischerweise diese drückend schwüle Hitze. Ein Raftingwochenende in der Altai Region ist bei den Temperaturen eine erfrischend feucht-fröhliche Abwechslung für Kopf und Körper. Und wie es eben mit den Reisen in Sibirien so ist, dauert die über 800 km lange Busfahrt dorthin schon mal um die 12 Stunden. Der Altai lockt mit unberührter Wildnis, Bergen und reißenden Flüssen, wie dem Katun. Ohne erfahrenen Guide sind die Stromschnellen und Söge lebensgefährlich. Er schafft auch irgendwie das scheinbar unmögliche, fünf Franzosen, zwei Russen und einen Deutschen samt Gepäck, Zelten, Raftingausrüstung und Proviant für drei Tage so in dem Boot zu verstauen, dass selbst an den wildesten Stellen nichts und niemand verloren geht. Die meiste Zeit auf dem Fluss kann man aber die Aussicht bei strahlendem Sonnenschein genießen oder ins Wasser springen während das Boot treibt. Kommt vom Guide plötzlich das Kommando „chod“, meist gefolgt von einem energischen „go, go, GO!“, sollte man ordentlich Gas geben, um Felsspitzen und gefährliche Strudel zu vermeiden. Da es am Katun keine Stechmücken gibt, kann man sogar am Abend ungestört Borsch, Brot und Bier am Lagerfeuer genießen. Gebräunt, glücklich und um eine weitere unglaubliche Sibirienerfahrung reicher geht es auch auf der Rückfahrt ähnlich feucht-fröhlich her wie beim Rafting. Allerdings hat das Vertrauen in unseren Busfahrer bei einem missglückten Überholmanöver ordentlich Schaden genommen, wie die obligatorisch gesprungene Windschutzscheibe. Dank der schmalen Bauweise von Toyota war zwischen der Spur in Fahrtrichtung und Gegenverkehr aber gerade noch Platz für unseren Kleinbus. (Je weiter man in Russlands Osten kommt, umso häufiger sind aus Japan importierte Autos mit Rechtslenkung mit denen überholen generell gefährlicher ist.) Besonders schön ist aber der Nachthimmel in dieser Zeit. Die Sonne verschwindet zwar für etwas mehr als sechs Stunden hinterm Horizont, richtig dunkel wird es aber nicht. Nautische Dämmerung leuchtet hell im Norden und geht über orange, rot und violett Töne in den Dunkelblauen Nachthimmel über. Generell sind Sonnenunter- und Aufgänge in Sibirien traumhaft schön. Die Erinnerung daran, meine Erfahrungen und die Freundschaften die ich in Tomsk geschlossen habe sind einmalig und werden mich auf meiner anschließenden Reise durch Zentralasien begleiten.
Kurz vor meiner Abreise habe ich noch den Tomsker Feuerwachen und dem historischen Feuerwehrmuseum einen Besuch abgestattet und mir die russische Technik angesehen, mit der die Feuerwehr auch bei Eis und Schnee und bis zu -50° C noch zum Einsatz ausrücken kann.