Analyse des Zusammenspiels von Sex und Gender

Biologisches und soziales Geschlecht („Sex" und „Gender") werden für analytische Zwecke unterschieden (s.  Sex und Gender). Tatsächlich interagieren biologisches und soziales Geschlecht (prägen einander gegenseitig) und formen individuelle Körper, kognitive Fähigkeiten, Krankheitsmuster etc. (Nowatzki & Grant, 2011; Fausto-Sterling, 2012; Schiebinger & Stefanick, 2020).

In der Gehirnforschung zum Beispiel sind beobachtete Unterschiede der physiologischen Merkmale zwischen biologischen Geschlechtern nicht ohne weiteres von sozialen Faktoren abgelöst zu betrachten (Rippon et al., 2014). Geschlechternormen prägen Essgewohnheiten, körperliche Aktivität, Erfahrung und Bildung – die alle mit der Gehirnfunktion im Zusammenhang stehen. Forschungen zeigen etwa in vielen Ländern Korrelationen zwischen der höheren Schulbildung von Männern mit einer niedrigeren Inzidenz von Alzheimer in diesen Ländern (Schiebinger & Stefanick, 2020).

Heute wird von manchen Akademiker_innen der Begriff „Sex/Gender“ verwendet, um darauf zu verweisen, dass biologisches und soziales Geschlecht interagieren (Kaiser, 2015; Hyde et al., 2018). Die Epidemiologin Nancy Krieger beschreibt das Zusammenspiel von biologischem und sozialem Geschlecht als „biologic expression of gender“ und „gendered expressions of biology“ – also als physischer Ausdruck des sozialen Geschlechts und geschlechtsspezifischer Ausdruck der Biologie (Krieger, 2001). Schmerz zum Beispiel ist von biologischen Faktoren beeinflusst, etwa Geschlechterunterschieden in der Sensitivität für ischemischen, thermischen, Druck- und Muskelschmerz (Bartley & Fillingim, 2013) und kulturellen Aspekten wie Unterschieden hinsichtlich dessen, wie Frauen, Männer und genderdiverse Personen Schmerz ansprechen, wie Mediziner_innen mit Schmerzen bei Patientinnen bzw. Patienten umgehen und wie das wahrgenommene Schmerzniveau je nach Geschlecht des Arztes/der Ärztin variiert (Alabas et al., 2012; Chapman et al., 2018; Lepold et al., 2014 – s.  ebenso Fallstudie: Chronischer Schmerz). Forschungen lassen auch vermuten, dass Geschlechterstereotypen hinsichtlich des Schmerzempfindens beeinflussen können, wie sehr Menschen bereit sind, über Schmerzen zu sprechen, und auch, wie stark sie Schmerz wahrnehmen (Schwarz et al., 2019).

Ebenso steht der Testosteronspiegel im Zusammenhang mit sowohl biologischen (z. B. die Zirkulation von Sexualhormonen) und kulturellen Faktoren (z. B. Familienstand von Männern; Holmboe et al., 2017). In Regionen, wo kulturelle Normen es positiv beurteilen, wenn Väter für ihre Kinder sorgen, haben Väter niedrigere Testosteronspiegel als in Regionen, wo Väter typischerweise nur wenig Sorgearbeit leisten (Fine, 2017). Überdies setzen manche Menschen Hormone wie Testosteron dazu ein, Aspekte ihres Körpers zu verändern, damit dieser ihrer Genderidentität besser entspricht.

Sex und Sex interagieren

In Tierstudien können Interaktionen zwischen den biologischen Geschlechtern die Forschungsergebnisse beeinflussen. Denken wir an die Langlebigkeit des Fadenwurms C. elegans. Forschungen zeigen, dass die Anwesenheit des männlichen C. elegans die Alterung bei Individuen des anderen Geschlechts beschleunigt und ihre Lebenserwartung verkürzt, in diesem Fall Hermaphroditen (Maures et al., 2014). Die meisten Laborstudien von Tieren untersuchen weibliche, männliche und hermaphrodite Exemplare getrennt. In ihrer natürlichen Umgebung koexistieren die Geschlechter jedoch, und die Nichtbeachtung der Interaktionen zwischen ihnen wird unser Wissen über die Lebensfähigkeit von Arten einschränken (Tannenbaum et al., 2019).

In ähnlicher Weise kann das biologische Geschlecht des Durchführenden bei Tierstudien die Reaktion eines Tieres auf die Behandlung vermindern. So ergeben Forschungen etwa, dass Mäuse in Anwesenheit eines männlichen Experimentators im Vergleich zu einer weiblichen Durchführenden weniger dazu neigen, Schmerz zu zeigen, und dass dieser sogenannte „Male Observer Effect“ bei weiblichen Mäusen ausgeprägter ist als bei männlichen (Sorge et al., 2014 – s.  Methode: Analyse des biologischen Geschlechts in der Labortierforschung). In diesem Fall zeigen die Tiere keinen Schmerz, wenn sie im Kontakt mit männlichen Pheromonen sind. Dieses Phänomen könnte alle früheren Ergebnisse der Schmerzforschung in Frage stellen.

Zusammenspiel von Sex und Gender

Biologisches und soziales Geschlecht interagieren auch in Bezug darauf, wie wir Gegenstände, Gebäude, Städte und Infrastrukturen konstruieren und gestalten. Zu erkennen, wie das soziale Geschlecht das biologische prägt und wie das biologische Geschlecht die Kultur beeinflusst, ist unverzichtbar für die Planung von erstklassiger Forschung.

Beispiel 1: Zusammenspiel von biologischem und sozialem Geschlecht bei der Erforschung von Märkten für technische Hilfsmittel für ältere Menschen

Zusammenspiel von biologischem und sozialem Geschlecht bei der Erforschung von Märkten für technische Hilfsmittel für ältere Menschen

Die Analyse des biologischen Geschlechts (physische Bedürfnisse) und die Analyse, wie diese Bedürfnisse sich bei einzelnen Frauen und Männern zusammensetzen, hilft Wissenschafter_innen, möglichst effiziente und marktfähige technische Hilfsmittel zu entwerfen. S. Erschließung von Märkten für technische Hilfsmittel für ältere Menschen.

Die Analyse des biologischen Geschlechts (physische Bedürfnisse) und die Analyse, wie diese Bedürfnisse sich bei einzelnen Frauen und Männern zusammensetzen, hilft Wissenschafter_innen, möglichst effiziente und marktfähige technische Hilfsmittel zu entwerfen. S.  Erschließung von Märkten für technische Hilfsmittel für ältere Menschen, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster.

Beispiel 2: Zusammenspiel von biologischem und sozialem Geschlecht im Lebensverlauf

Zusammenspiel von biologischem und sozialem Geschlecht im Lebensverlauf

Es ist wichtig, die komplexe gegenseitige Abhängigkeit von biologischem und sozialem Geschlecht über den gesamten menschlichen Lebenszyklus hinweg zu analysieren (Regitz-Zagrosek, 2012). Wenn wir zum Beispiel den gesundheitlichen Status betrachten, beeinflusst das biologische Geschlecht die Gesundheit, indem es auf das Verhalten einwirkt. Gleichzeitig können geschlechtsspezifische Verhaltensweisen biologische Faktoren verändern. Obwohl Frauen und Männer grundlegend ähnlich sind, können Unterschiede im biologischen und sozialen Geschlecht interagieren und zu unterschiedlichen Gesundheitsfolgen führen (s. Herzkrankheit in diversen Populationen, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster; Nutrigenomik, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster; Osteoporoseforschung bei Männern, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

Beispiel 3: Zusammenspiel von biologischem und sozialem Geschlecht in der Tierforschung

Zusammenspiel von biologischem und sozialem Geschlecht in der Tierforschung

In der Tierforschung gibt es Interaktionen zwischen biologischem Geschlecht (physische Merkmale wie Gene, Hormone, Alter, reproduktive Phase, Stammkultur etc.) und kulturellen oder Umweltprozessen (wie Praxis der Käfighaltung, Einstellungen und Verhalten von Wissenschafter_innen, Raumtemperatur, Futter etc.). Die doppelseitigen Pfeile repräsentieren Interaktionen zwischen Faktoren des biologischen Geschlechts und Umweltfaktoren. Umweltprozesse wie etwa Praxis der Käfighaltung oder unterschiedliche Handhabung (die Gender-Vorannahmen und Praktiken auf Seiten der Wissenschafter_innen beinhalten können), können sich auf männliche und weibliche Tiere unterschiedlich auswirken. Ein Effekt sollte nicht als geschlechtsabhängig (oder durch ein biologisches Merkmal bedingt) identifiziert werden, wenn er tatsächlich von einer (Labor- oder) Umweltbedingung beeinflusst ist (s.  Analyse des biologischen Geschlechts in der Labortierforschung, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

Beispiel 4: Zusammenspiel von biologischem und sozialem Geschlecht und anderen Faktoren in der Nutrigenomik

Zusammenspiel von biologischem und sozialem Geschlecht und anderen Faktoren in der Nutrigenomik

Sowohl Faktoren im Zusammenhang mit dem biologischen als auch dem sozialen Geschlecht bestimmen die funktionelle Fähigkeit eines Individuums über sein gesamtes Leben hinweg. Weil biologisches und soziales Geschlecht interagieren, ist es schwierig, die jeweiligen Einflüsse jedes Faktors unabhängig voneinander zu identifizieren. Für eine weitere Diskussion siehe Nutrigenomik, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster.

Beispiel 5: Zusammenspiel von biologischem und sozialem Geschlecht und anderen Faktoren bei Schmerz

Zusammenspiel von biologischem und sozialem Geschlecht und anderen Faktoren bei Schmerz

Schmerz umfasst sowohl biologische Aspekte (Geschlechterunterschiede in der Sensitivität für elektrischen, ischämischen, thermischen, Druck- und Muskelschmerz) und kulturelle Aspekte (Genderfaktoren im Hinblick darauf, wie Menschen Schmerz ansprechen und wie Mediziner_innen Schmerz bei Patient_innen verstehen und behandeln). Welche Behandlung ein_e Patient_in bekommt, kann vom sozialen Geschlecht des/der Patient_in und den Genderannahmen eines/einer Mediziner_in abhängen. Geschlechternormen zum Beispiel können die Bereitschaft einer Person beeinflussen, Schmerz anzusprechen. Diese Geschlechternormen variieren je nach ethnischer Zugehörigkeit und anderen sozialen Faktoren. Die Genderannahmen von Mediziner_innen können auch die Behandlungen von Frauen, Männern und genderdiversen Personen beeinflussen. Kliniker_innen nehmen den Schmerz von Frauen häufig als psychologisch wahr; infolgedessen fallen die Diagnosen bei Frauen möglicherweise unspezifischer aus, sie warten länger auf Behandlung und ihnen werden mehr Antidepressiva und weniger Schmerzmittel verschrieben als Männern – s.  Fallstudie: Chronischer Schmerz, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster.

Beispiel 6: Zusammenspiel von biologischem und sozialem Geschlecht in der Systembiologie, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster

Zusammenspiel von biologischem und sozialem Geschlecht in der Systembiologie

Die Biologie eines Individuums entsteht und verändert sich sowohl aufgrund seines biologischen Geschlechts als auch aufgrund seiner kulturellen Genderidentität und deren Ausdruck. Um maximal effektiv zu sein, müssen Felder wie Präzisionsmedizin, Pharmakotherapie und Ernährungswissenschaft sowohl biologisches als auch soziales Geschlecht als Analysevariablen integrieren. In der Omik-Analyse interagiert das biologische Geschlecht, zu dem z. B. Chromosomenausstattung und zirkulierende Hormone gehören, mit dem sozialen Geschlecht, zu dem z. B. kulturelle Einflüsse von ethnischer Zugehörigkeit und sozialen Normen gehören, wie dieses Diagramm illustriert.

Alabas, O. A., Tashani, O. A., Tabasam, G., & Johnson, M. I. (2012). Gender role affects experimental pain responses: a systematic review with meta‐analysis. European Journal of Pain, 16, 1211–23.

 

Bartley, E. J., & Fillingim, R. B. (2013). Sex differences in pain: a brief review of clinical and experimental findings. British Journal of Anaesthesia, 111, 52–58.

Chapman, C. D., Benedict, C., & Schiöth, H. B. (2018). Experimenter gender and replicability in science. Science Advances, 4(1), doi: 10.1126/sciadv.1701427.

Fausto-Sterling, A. (2012). Sex/Gender: Biology in a Social World. New York: Routledge.

Fine, C. (2017). Testosterone Rex: Unmaking the Myths of Our Gendered Minds. London: Icon Books.

Holmboe, S. A., Priskorn, L., Jørgensen, N., Skakkebaek, N. E., Linneberg, A., Juul, A., & Andersson, A. M.  (2017). Influence of marital status on testosterone levels:a ten year follow-up of 1113 men. Psychoneuroendocrinology, 80, 155–161.

Hoffman, K. M., Trawalter, S., Axt, J. R., & Oliver, M. N. (2016). Racial bias in pain assessment and treatment recommendations, and false beliefs about biological differences between blacks and whites. Proceedings of the National Academy of Sciences, 113(16), 4296-4301.

Kaiser, A. (2015). Re-conceptualizing “sex” and “gender” in the human brain. Zeitschrift für Psychologie, 220(2): 130-136.

Krieger, N. Genders, sexes, and health: what are the connections—and why does it matter? (2003). International Journal of Epidemiology, 32, 652–657.

Leopold, S., Beadling, L., Dobbs, M., Gebhardt, M., Lotke, P., Manner, P., Rimnac, C., & Wongworawat, M. (2014). Fairness to All: Gender and Sex in Scientific Reporting. Clinical Orthopaedics and Related Research, 472(2), 391-392.

Maures, T. J., Booth, L. N., Benayoun, B. A., Izrayelit, Y., Schroeder, F. C., & Brunet, A. (2014). Males shorten the life span of C. elegans hermaphrodites via secreted compounds. Science, 343(6170), 541-544.

Notwatski, N. & Grant, K. (2011). Sex is not Enough: The Need for Gender Based Analysis in Health Research. Health Care for Women International, 32 (4), 263-277.

Regitz-Zagrosek, V. (2012). Sex and Gender Differences in Health. European Molecular Biology Organization Reports, 13 (7), 596-603.

Ritz, S. A., & Greaves, L. (2022). Transcending the Male–Female Binary in Biomedical Research: Constellations, Heterogeneity, and Mechanism When Considering Sex and Gender. International Journal of Environmental Research and Public Health, 19(7), 4083.

Schiebinger, L. & Stefanick, M. (2020). Analyzing how sex and gender interact. Lancet (forthcoming).

Schwarz, K. A., Sprenger, C., Hidalgo, P., Pfister, R., Diekhof, E. K., & Buchel, C. (2019). How stereotypes affect pain. Scientific Reports, 9(1), 8626. doi:10.1038/s41598-019-45044-y

Sorge, R. E., Martin, L. J., Isbester, K. A., Sotocinal, S. G., Rosen, S., Tuttle, A. H., ... & Leger, P. (2014). Olfactory exposure to males, including men, causes stress and related analgesia in rodents. Nature methods, 11(6), 629.

Springer, K., Stellman, J., & Jordan-Young, R. (2012). Beyond a Category of Differences: A Theoretical Frame and Good Practice Guidelines for Researching Sex/Gender in Human Health. Social Science & Medicine, 74, 1817-1824.

Tannenbaum, C., Ellis, R., Eyssel, F., Zou, J., Schiebinger, L. (2019). Sex and gender analysis improves science and engineering. Nature, 575(7781), 137-146.

U.S. Food and Drug Administration (2014), Evaluation of Sex-Specific Data in Medical device Clinical Studies. Washington, D.C.