Normenkritische Innovation

Problem- und Bedarfsdefinition

Haben Frauen und Männer unterschiedliche Wahrnehmungen, Prioritäten und Bedürfnisse?

Es ist sicherzustellen, dass sowohl Frauen als auch Männer bei der Definition des Problems, das zur Lösung ansteht, den gleichen Einfluss haben. Hierfür kann ein besonderer Fokus auf die zuvor unterrepräsentierte Gruppe notwendig sein.

Ein Beispiel ist das YCC Konzeptfahrzeug von Volvo, das von einem ausschließlich weiblichen Team designt wurde. Das YCC Konzeptfahrzeug ergab 50 neue Lösungen und einige von ihnen waren technisch zukunftsweisend. Das YCC Konzeptfahrzeug zeigte deutlich, dass Autos gewöhnlich von Männern für Männer designt werden. Das All Aboard Konzeptboot ist ein ähnliches Projekt im Bootsbau. Dabei ging es um das Design eines Bootes mit benutzergesteuerten Lösungen, die die Bedürfnisse von Frauen an Bord von Freizeitbooten einbezogen. Die Absicht des YCC Konzeptfahrzeugs und des All Aboard Konzeptboots war es, vernachlässigte Bedürfnisse und Zielgruppen aufzuzeigen, die im Design von Autos oder Booten bisher nicht vorrangig waren.

Ein weiteres Beispiel ist das Soundsystem Beosound 5 von Bang & Olufsen (B&O), der im Rahmen der Studie Female Innovation beforscht wurde, bei der die dänischen Firma design-people federführend war. Eine auf Frauen fokussierte Benutzer_innen studie zeigte, dass die Kommunikation um das Produkt die Vorteile für Männer aufzeigte und das System selbst Frauen in der Bedienung kompliziert erschien und zu viel Aufmerksamkeit auf sich zog, wenn es in einem Wohnzimmer installiert wurde. Nach der Studie veränderte B&O die Kommunikation und seine Produkte, um den Präferenzen von Frauen besser zu entsprechen (design-people, o. D.).

Normenkritische (oder intersektionale) Analyse

Wenn wir Normen übersehen oder die Erfahrungen anderer nicht hervorheben, laufen Lösungen Gefahr, Stereotype zu bestärken und andere einzuschränken, zu behindern oder sogar zu diskriminieren (Börjesson et al., 2016).

Normenkritische Analyse hinterfragt Normen, Rollen, Machtverhältnisse und Machtstrukturen, die mit unterschiedlichen Arten der Diskriminierung in Verbindung stehen, und zeigt auf, wer oder was durch die Implementierung unterschiedlicher Normen ein- oder ausgeschlossen wird. Das verstehen von Normen hilft auch dabei, sich mit unterrepräsentierten Gruppen zu identifizieren und die Alltagserfahrungen zu verstehen, die deren Motivationen und Einstellungen gegenüber einem Produkt oder einer Dienstleistung prägen (Vinnova, 2018).

Zum Beispiel bei der Analyse von gesundheitsbezogenen Produkten und Dienstleistungen ist es wichtig zu verstehen, inwiefern Frauen das Gesundheitssystem anders erleben als Männer. Unter anderem haben sie mehr mit dem Gesundheitssystem zu tun, unterziehen sich mehr Behandlungen, die körperliche Entblößung involvieren, und es ist wahrscheinlicher, dass ihre körperlichen Beschwerden als emotional abgetan werden.

Normenkreative Ideenentwicklung

Bei der Ideenentwicklung ist es wichtig, eine benutzer_innen gestützte Methode anzuwenden, bei der Ideen von den Endverbraucher_innen entwickelt werden. Dabei sollten diverse Gruppen von Endverbraucher_innen eingebunden werden, um inklusive Lösungen zu gewährleisten. Repräsentative Personas zu verwenden, ist eine gute Methode, um sich mit diversen Anwender_innengruppen zu identifizieren und sich in sie einzufühlen, was zu nutzerzentrierten Ideen führt. Die Ideenfindungsphase ist die kreativste Phase eines Innovationsprozesses. Häufig werden die Endverbraucher_innen aber erst in der Testphase eingebunden, wenn es bereits zu spät ist, um zu gewährleisten, dass ihre Ideen im Projekt in Betracht gezogen werden. Prototypenentwicklung und Testphase sind weniger weit gefasst als die Ideenfindung.

Es ist auch wichtig, unterschiedliche Problemlösungen auszuprobieren. Das geschieht in der normenkreativen Phase, in der normenkreative Taktiken und unterschiedliche Haltungen und Verfahren eingesetzt werden, um sich diesem Ziel anzunähern. Die Taktiken illustrieren unterschiedliche Handlungswege, etwa die Korrektur gesellschaftlicher Ausschließungsnormen durch die Bearbeitung der spezifischen Bedürfnisse von marginalisierten Gruppen im Designergebnis. Eine weitere Taktik kann es sein, soziale Ausschließungsnormen zu neutralisieren, indem flexible Lösungen geschaffen werden, die Nutzer_innen selbst erweitern, verändern oder anderweitig neu konfigurieren können. 

Die untenstehende Grafik zeigt unterschiedliche Taktiken, die ein Problem neu formulieren und zu innovativen Ergebnissen führen können (Wikberg, Nilsson & Jahnke, 2018).

Von radikalen über inklusive hin zu sozialen Taktiken

 

Die Lochstanze

Spricht gesellschaftliche Okklusionsnormen* an, indem durch Kommunikation/Storytelling von negativen Nutzer_innenerfahrungen die öffentliche Meinung beeinflusst und Bewusstsein geschaffen wird.

Der Vorschlaghammer

Stellt sich gegen gesellschaftliche Okklusionsnormen, indem Nutzer_innenerfahrungen von Marginalisierung, Okklusion oder Diskriminierung inszeniert werden.

Die Maurerkelle

Wirkt gesellschaftlichen Okklusionsnormen entgegen, indem Lösungen entwickelt werden, die für die Bedürfnisse und Präferenzen von so vielen Nutzer_innengruppen wie möglich geeignet sind.

Der Präzisionsschraubenzieher

Korrigiert gesellschaftliche Okklusionsnormen durch das Ansprechen spezifischer Bedürfnisse von marginalisierten Gruppen im Designergebnis.

Der Quirlbesen

Durchkreuzt gesellschaftliche Okklusionsnormen durch Manipulation des problematischen Themas zu einer neuen Form oder Funktion.

Das Tarnnetz

Trickst gesellschaftliche Okklusionsnormen aus, indem das Neue auf vertraute und erkennbare Art verpackt wird.

Der verstellbare Schraubenschlüssel

Neutralisiert gesellschaftliche Okklusionsnormen durch flexible Lösungen, die Nutzer_innen selbst erweitern, verändern oder anderweitig neu konfigurieren können.

Der Schweißbrenner

Annulliert gesellschaftliche Okklusionsnormen durch kollektive und geteilte System- oder Dienstleistungslösungen.

Der Hebel

Stellt gesellschaftliche Okklusionsnormen in Frage, indem auf positiver Diskriminierung und Privilegienumkehr für marginalisierte Gruppen aufgebaut wird. 

Der Radierer

Konterkariert gesellschaftliche Okklusionsnormen, indem „schlechtes Design“ getilgt und von Neuem begonnen wird.

Die Reibe

Wirkt gegen gesellschaftliche Okklusionsnormen, indem Gegenstände geschaffen werden, die Ausschlüsse durch ihre Form und/oder Funktion in Frage stellen.

Die Gartenschaufel

Stellt sich gesellschaftlichen Okklusionsnormen entgegen, indem Lösungen entwickelt werden, die über Normen und Kategorien hinausgehen.

*Okklusion: Das Schaffen von Behinderung, Ausschluss, Hürden, Exklusion

©Wikberg Nilsson & Jahnke (2018) – Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung

Prototypenentwicklung/ Testung

Prototypenentwicklung und -testung werden bevorzugt in realen Situationen und nicht im Labor durchgeführt. Endnutzer_innen sollten in dieser Phase einbezogen werden, um tiefere Einsichten und wertvollere Erfahrungen zugänglich zu machen.

Zum Beispiel erwies sich, dass neue Technologien wie VR bei Frauen zweimal häufiger Übelkeit verursachen als bei Männern. Die Symptome sind wahrscheinlich auf einen Konflikt zwischen dem visuellen und vestibularen (Innenohr-) System zurückzuführen, auf die Frauen sensibler reagieren (Al Zayer et al., 2019; s. Fallbeispiel: Virtuelle Realität). Eine Regulierung des Gesichtsfelds in der Navigation ist möglicherweise notwendig, um den visuell-vestibularen Konflikt zu mildern, und die Prototypenentwicklung sollte in Zusammenarbeit mit Frauen durchgeführt werden.

Implementierung

Frauen und Männer haben möglicherweise aufgrund von Einkommensunterschieden, Zugang zu Technik etc. unterschiedlichen Zugang zu Lösungen/Innovationen. Alle diese Aspekte erfordern eine Analyse des sozialen Geschlechts und die Einbindung von Frauen und Männern in die Implementierungsphase.

Scale-up

Es ist wichtig, die Haupthürden aufgrund des sozialen Geschlechts für die Scale-up-Phase zu analysieren und zu definieren. Die Übertragung einer Idee in den industriellen Maßstab ist nicht genderneutral.

Zum Beispiel führt Voreingenommenheit bei Entscheidungen über Venture-Kapital häufig dazu, dass Ideen von Frauen unterfinanziert bleiben. Allerdings zeigte sich, dass Crowdfunding genderneutraler ist als andere Finanzierungsinstrumente für das Scale-up. Forschung zu Venture-Kapital-Finanzierung ergab, dass weiblich geführte Unternehmen substantiell weniger Finanzierungen aus Venture-Kapital erhalten als Männer und von ihnen auch oft erwartet wird, dass sie größere Beteiligungen abgeben, wenn sie private Finanzierung erhalten. Andererseits zeigte sich bei Crowdfunding ein Finanzierungsvorteil für Frauen, da sie als vertrauenswürdiger wahrgenommen werden, was ein wichtiges Kriterium im Crowdfunding ist (Gorbatai & Nelson; 2015; Johnson et al., 2018).

Geschlechtsspezifische Faktoren nicht zu berücksichtigen, kann Reichweite und Maßstab von Innovationen beschränken. Ein systematischer Ansatz zur Gewährleistung von Genderbewusstsein in Scale-up-Prozessen könnte deren Effizienz signifikant erhöhen (Grand Challenges Canada, o. J.).

Relevante Fallstudien


Smarte Energie/Smart Energy, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster
Erweiterte Virtuelle Realität/Extended Virtual Reality, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster

Al Zayer, M., Adhanom, I. B., McNeilage, P., & Folmer, E. (2019). ‘The effect of field-of-view restriction on sex bias in VR sickness and spatial navigation performance’, in: Proceedings of the 2019 CHI Conference on Human Factors in Computing Systems 

Börjesson, E., Isaksson, A., & Ilstedt, S. (2016). ‘Visualizing gender: norm-critical design and innovation’, in: Alsos, G. A., Hytti, U. and Ljunggren, E. (eds.), Research Handbook Gender and Innovation, Edward Elgar Publishing, Cheltenham, UK, pp. 252–274.

Inspiredbywomen.net. ‘Bang & Olufsen bring a female perspective to Smart Audio’, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster.

Gorbatai, A., & Nelson, L. (2015). ‘The narrative advantage: gender and the language of crowdfunding’ 

Grand Challenges Canada (n.d.). ‘Innovation, gender equality and sustained results’ (https://www.grandchallenges.ca/wp-content/uploads/2015/11/Gender_Analysis_Brief-EN.pdf, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

Johnson, M., Stevenson, R. M., & Letwin, R. C (2018). ‘A woman’s place is in the start-up: crowdfunder judgments, implicit bias, and the stereotype content model’, Journal of Business Venturing, 33(6), 813–831. (https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0883902616302798, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster).

Vinnova (2018). ‘What is norm-critical innovation?’ (https://www.youtube.com/watch?v=pbJpANNFEJI, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster.

Wikberg Nilsson, Å., & Jahnke, M. (2018). ‘Tactics for norm-creative innovation’, She: Ji. The Journal of Design, Economics and Innovation, 4(4), 375–391.