Werdegang
Aufgrund seiner zahlreichen unterschiedlichen Interessen bezeichnete Ansgar Jüngel seine Studienwahl als "nicht ganz leicht". Neben Mathematik und Physik kamen auch Medizin, Kunst und Germanistik in die engere Auswahl. 1985 entschloss er sich, an der TU Berlin "klassisch" Mathematik und Physik zu studieren. Zunächst inskribierte Jüngel das Lehramt. Nachdem er einige Praktika an Schulen absolvierte hatte, entschied er sich zusätzlich für das Diplomstudium. Im zweiten Abschnitt nahm er Informatik dazu und ging kurz vor Abschluss des Studiums an die Ecole Normale Supérieure nach Paris, wo er 1990 seine Diplomarbeit begann. Darin beschäftigte er sich mit einer Fragestellung, die aus der Kunststoffindustrie stammte. Mit entsprechenden Gleichungen untersuchte er die Bewegungen von flüssigem Kunststoff, der in Formen gegossen wird.
1991 trat Jüngel eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Berlin an. "Interessanterweise geriet ich in eine Arbeitsgruppe (Prof. Markowich), die frisch aus Österreich kam und viel neue Energie mitgebracht hatte. Ich fühlte mich dort sehr wohl." Das breite Interessensspektrum von Professor Jüngel spiegelt sich auch in der Mathematik wieder. "Bei Bewerbungen sorgt dies gelegentlich für Irritationen. Mich interessieren in der Mathematik sowohl reale Probleme aus dem Alltag oder aus der Technik als auch wie diese Probleme in der Theorie umgesetzt werden können. Was kann ich dazu beitragen, die Probleme zu verstehen und zu lösen? Man kann sich die Mathematik wie einen Werkzeugkasten vorstellen. Manche Werkzeuge sind vielseitig benutzbar, einige muss man neu erfinden," verdeutlicht Jüngel.
Im Rahmen seiner Dissertation befasste sich der neuberufene TU-Professor mit Halbleitersimulationen. Jüngel suchte einen bestimmten Gleichungstyp und versuchte diesen mit Hilfe des Computers zu lösen. Der gebürtige Berliner war unter anderem als Universitätsassistent in Rostock sowie als Gastprofessor in Nizza, Toulouse, Paris und Texas tätig. Ein Ruf als Professor führte ihn zwischen 1999 und 2002 an die Universität Konstanz. An der Universität Mainz war Jüngel vier Jahre lang als Professor tätig. Im Dezember 2006 erfolgte der Ruf an die TU Wien als Professor für Mathematische Analysis.
Forschungsschwerpunkt Halbleiter
Ansgar Jüngels Forschungsschwerpunkte drehen sich rund um Halbleiterbauteile. "Die Halbleiterindustrie arbeitet immer mehr mit Simulationen, weil sie preiswerter als Experimente sind. Anhand der Ergebnisse kann man dann präziser und schneller Prototypen bauen. Die Winzigkeit der Bauteile stellt eine unglaubliche Herausforderung für die Mathematik dar. Es können störende Effekte auftreten, wie zum Beispiel eine erhöhte Temperatur. Geräte wie Laptops können sehr warm werden. Wir möchten diese Effekte thermodynamisch und quantenmechanisch beschreiben und wenn möglich reduzieren. In der Verkleinerung und Leistungssteigerung der Mikrochips liegt also ebenfalls ein großes Potential," so Jüngel. Ein Grund, warum er dem Ruf an die TU Wien folgte, hat auch damit zu tun, dass er hier mit ElektrotechnikerInnen im Halbleiterbereich zusammenarbeiten kann. In diesem Zusammenhang gilt es, auch Methoden zu entwickeln, mit denen man - so Jüngel - "gewisse Beweisstrukturen automatisieren kann." Diese algorithmischen Beweistechniken dienen dem Verständnis und der Überprüfung von mathematischen Modellen.
Ein weiterer Forschungsbereich, den Jüngel nannte, ist die Finanzmathematik. Finanzderivate, sogenannte Optionen, mit denen man das Recht erwirbt, bestimmte Aktien zu kaufen, stehen im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Als Resümee betont Jüngel, dass er sich sowohl mit der theoretischen als auch mit der anwendungsorientierten Seite der Mathematik beschäftigt. "Es ist immer ein Dreispan aus Modellierung, Analysis und Simulation, das ich als das SAM-Prinzip bezeichne. Auch IngenieurInnen und PhysikerInnen können Algorithmen schreiben. Was wir denen als Mathematiker sozusagen liefern, ist, dass wir noch robustere Algorithmen schreiben, die in einem allgemeinen Kontext zu formulieren sind", erklärt Jüngel.
Als wichtiges Forschungsprojekt, bezeichnete Jüngel das Wissenschaftskolleg "Differentialgleichungen", das in Kooperation mit der Universität Wien (Prof. Schmeiser) stattfindet. Forschungsprojekte bestehen auch mit der Universität Buenos Aires sowie mit drei verschiedenen Unis in Frankreich (Clermont-Ferrand, Grenoble, Chambéry). Außerdem arbeitet Jüngel mit WissenschaftlerInnen aus Italien, Spanien, USA, Japan, China und Myanmar zusammen. "Internationale Kooperationen sind in der Mathematik unverzichtbar, um herausragende Forschungsergebnisse zu realisieren", betont Jüngel.
Mathematik an der TU Wien
"Ich habe mich für die TU Wien entschieden, weil es hier von oberster Seite die Maxime gibt, dass es sich um eine Forschungsuniversität handelt. Das ist mir wichtig, da die Forschungsqualität im Vordergrund steht. Wenn ich exzellente Forschung mache, dann kann ich dies auch in der Vorlesung weitergeben und die Lehre profitiert davon", so Jüngel. In Deutschland gab es laut Jüngel in den letzten Jahren erstaunlicherweise einen Boom beim Mathematikstudium. "Mathematik ist ein schwieriges Studium, aber es lohnt sich, denn die Jobaussichten sind auch in schlechten Zeiten sehr gut." Zur Umstellung auf Bachelor- und Master meinte Jüngel, dass er "Internationalisierung grundsätzlich immer positiv" finde. Dennoch kann er die Argumente, dass das Diplom im Ausland nicht anerkannt wird, aufgrund von persönlichen Erfahrungen nicht teilen. In Mainz war Jüngel aktiv bei der Umstellung auf Bachelor und Master beteiligt. "Wir waren bemüht, die Qualität des Diploms irgendwie beizubehalten, aber was letztlich rausgekommen ist, ist eine starke Verschulung und eine stärkere Vorgabe an Vorlesungen, die gehört werden müssen", so Jüngel.
Private Seite und Ausblick
Privat hat Professor Jüngel die Kunst noch nicht losgelassen. "Ich habe früher eher gezeichnet, heute nutze ich die Möglichkeiten, die mir der Computer bietet und mache viel im Grafikbereich beziehungsweise fotografiere sehr gerne. In Wien hat man natürlich fantastische Möglichkeiten." Der zweite große Bereich, für den sich Ansgar Jüngel interessiert, ist die Literatur. Momentan beschäftigt er sich mit japanischer Literatur, um einen Einblick in die Kultur zu bekommen. Davor war er der französischen Literatur zugeneigt. "Ich schreibe auch selbst ein bisschen. Da geht es um das Phänomen "Zeit". Das versuche ich literarisch aufzuarbeiten. Das bietet mir sehr viele Freiheiten. Ich kann mit dem Begriff Dinge machen, die ich in der Physik nicht könnte." An Wien fasziniert Jüngel im Vergleich zu seiner Heimatstadt Berlin die Kunst- und Theatertradition.
An der TU Wien gefallen Jüngel die zahlreichen Möglichkeiten, Dinge umzusetzen. "Bezogen auf die Größe des Landes habe ich den Eindruck, dass speziell in Wien die TU selber sehr viel anbietet. Zum Beispiel das Außeninstitut und viele andere Schwerpunkte. Das finde ich sehr schön und möchte es auch nutzen. Meine Vision ist es, eine internationale Forschungsgruppe aufzubauen, die mit anderen Instituten zusammenarbeitet und interessante Projekte auf die Beine stellt."