Esther Heid: Künstliche Intelligenz für chemische Reaktionen

Neuronale Netze sollen in Zukunft chemische Reaktionen vorhersagen und verbessern helfen. Gerade für neue umweltfreundlichere Synthesemethoden kann das große Fortschritte bringen.

Esther Heid

© Ulrich Zinell

Beim Übersetzen von Texten oder beim Generieren von Bildern übertrifft künstliche Intelligenz in vielen Bereichen bereits den Menschen. Beim Vorhersagen chemischer Reaktionen steht die Verwendung von künstlicher Intelligenz aber noch am Anfang.

Die theoretische Chemikerin Esther Heid vom Institut für Materialchemie der TU Wien will das ändern: Schon in den letzten Jahren hat sie ganz neue Ideen entwickelt, wie man neuronale Netze für die Suche nach besseren chemischen Verfahren nutzen kann. Nun wurde sie vom European Research Council (ERC) mit einem ERC Starting Grant ausgezeichnet, dotiert mit 1,5 Millionen Euro, über eine Projektlaufzeit von fünf Jahren. Damit will Esther Heid nun ihre Forschungsgruppe ausbauen und neuronale Netze besser und effizienter für die chemische Forschung nutzbar machen.

Keine fertigen Lösungen aus der Schublade

Künstliche Intelligenz (AI) für wissenschaftliche Forschung zu nutzen ist nichts Neues mehr. Längst gibt es fertig entwickelte AI-Tools, die man herunterladen kann, um sie dann anhand eigener Daten zu trainieren. Eine AI, die dafür designt ist, Bilder verschiedenen Kategorien zuzuordnen, kann man dann beispielsweise dafür einsetzen, medizinische Bilder verschiedenen Krankheiten zuzuordnen.

In der Chemie ist das aber komplizierter, erklärt Esther Heid: „Man kann nicht einfach bestehende AI-Tools verwenden, auf chemische Datensätze trainieren und damit dann chemische Reaktionen vorhersagen. In den letzten Jahren hat sich gezeigt: Um hier Erfolg zu haben, muss man ganz spezielle neue AI-Methoden entwickeln, die für chemische Fragestellungen maßgeschneidert sind.“

Chemische Eigenschaften und chemische Reaktionen

Was heute schon in gewissem Rahmen funktioniert, ist die Vorhersage der Eigenschaften verschiedener Chemikalien mit AI: „Man kann ein neuronales Netz an vielen verschiedenen Molekülen und ihren bekannten Eigenschaften trainieren, und dann kann die AI in vielen Fällen auch die Eigenschaften anderer Moleküle richtig einschätzen – zum Beispiel die Löslichkeit des Moleküls.“

Manche hofften daher, solche neuronalen Netze erweitern zu können, um mit ihnen chemische Reaktionen korrekt vorherzusagen – doch ein durchschlagender Erfolg blieb vorerst aus. „Das ist nicht überraschend, wenn man etwas tiefer in diese Methoden hineinblickt“, sagt Esther Heid. „Man erkennt schnell, dass manche Phänomene auf ganz fundamentalen Gründen auf diese Weise nicht korrekt beschrieben werden können.“

Dazu gehört etwa die Stereochemie: Viele Moleküle gibt es in unterschiedlichen Varianten. Sie bestehen aus denselben Atomen, sind aber gespiegelte Versionen voneinander, wie ein rechter und ein linker Handschuh. Gerade in der Biochemie ist das sehr wichtig: Bei biochemischen Reaktionen wird oft eine der beiden Varianten in viel stärkerem Ausmaß produziert als ihr Spiegelbild. „Damit kommen bisherige AI-Methoden überhaupt nicht zurecht“, sagt Esther Heid. „Die Datenstruktur, mit der diese Methoden arbeiten, kann solche Phänomene einfach nicht richtig abbilden.“

Neue Grundlagen für die AI

Man muss also zunächst überhaupt mal ein passendes Datenformat finden, in dem man nicht nur einzelne Moleküle sondern ganze chemische Reaktionen codiert, sodass neuronale Netze damit richtig und effizient umgehen können. Man braucht Grundlagenforschung in der AI, um sie auf sinnvolle Weise auf Chemie anwenden zu können. „In diesem Bereich haben wir in den letzten Jahren wichtige Fortschritte gemacht. Benchmark-Tests zeigen, dass man mit unseren Ansätzen schon jetzt viel weiter kommt als mit anderen Methoden, die heute verfügbar sind. Aber es gibt hier noch viel zu tun, wir haben eine lange Liste von Ideen, die wir nun im Rahmen des ERC-Projekts umsetzen wollen.“

Wenn die neuronalen Netze wie gewünscht funktionieren, sollen sie speziell auf organische chemische Reaktionen angewendet werden, auch auf Reaktionen, in denen Biokatalysatoren eine wichtige Rolle spielen. Solche Prozesse sind schwer zu beschreiben, haben aber für die chemische Forschung eine besonders große Bedeutung. Es soll damit möglich werden, bessere, effizientere und umweltfreundlichere Verfahren für die Herstellung wichtiger organischer Moleküle zu entwickeln.

„Heute beruhen solche Entwicklungen oft einfach auf Erfahrung, oder auf Versuch und Irrtum“, sagt Esther Heid. „Wenn künstliche Intelligenz in Zukunft in kurzer Zeit Vorschläge liefern kann, an die man als Mensch vielleicht gar nicht gedacht hätte, wäre das ein Game Changer in der Chemie.“

Esther Heid

Esther Heid studierte Chemie an der Universität Wien, wo sie 2019 auch promovierte. Schon als Dissertantin verbrachte sie als Visiting Scientist Zeit im Ausland (an der University of Maryland, USA, und am Imperial College, UK), nach Abschluss ihrer Dissertation forschte sie als Postdoc am MIT in den USA. 2022 schließlich wechselte sie an die TU Wien.

Esther Heid wurde bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Loschmidt-Preis der Chemisch-Physikalische Gesellschaft (Wien) und ein Schrödinger-Fellowship des FWF. Erst kürzlich, im Juni 2024, erhielt sie den START-Preis des FWF. Mit dem ERC Starting Grant wird ihre Forschungsarbeit nun durch einen der höchstdotierten und prestigeträchtigsten Preise der europäischen Forschungslandschaft gewürdigt.

Rückfragehinweis:

Dr. Esther Heid
Institut für Materialchemie
Technische Universität Wien
+43 1 58801 165310
esther.heid@tuwien.ac.at

Text: Florian Aigner