Meeresspiegelanstieg, GPS und Erdrotation. Drei Schlagworte, die eng mit dem Forschungsbereich Höhere Geodäsie verbunden sind. Aber die Geodäsie kann noch viel mehr, wie uns Johannes Böhm, Leiter des Departments für Geodäsie und Geoinformation im Interview verrät.
Mit welchen Forschungsaufgaben beschäftigt sich die Geodäsie?
Johannes Böhm (JB): Laut Definition beschäftigt sich die Geodäsie mit der Figur, der Rotation und dem Schwerefeld der Erde sowie mit den Veränderungen dieser Parameter. Vereinfacht ausgedrückt könnte man auch sagen, Geodäsie geht den Fragen „Wo bin ich?“, „Wie spät ist es?“ und „Wohin fließt das Wasser?“ nach. Zur Beantwortung der Fragen bzw. zum Messen werden zum Beispiel globale Satellitennavigationssysteme wie GPS (USA) oder Galileo (Europäische Union) verwendet.
Die Geodäsie lässt sich in unterschiedliche Forschungsbereiche unterteilen: Ich arbeite im Bereich der Höheren Geodäsie und beschäftige mich mit dem Forschungsgegenstand Erde (Anmerkung: im Artikel ist mit dem Begriff Geodäsie immer Höhere Geodäsie gemeint). In der Ingenieurgeodäsie werden etwa Laserscanner eingesetzt, um genaue Vermessungen durchzuführen, das wird beispielsweise in der Bauwerksüberwachung benötigt. Der Forschungsbereich Photogrammetrie beschäftigt sich unter anderem mit der Errechnung von 3D-Geländemodellen. Es gibt noch fünf weitere Bereiche im Department, die in erster Linie nicht klassisch-geodätische Themen behandeln. Das sind: Fernerkundung, Klima- und Umweltfernerkundung, Geophysik, Geoinformation, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster sowie Kartographie, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster.
Das Ziel und zugleich die Herausforderung der Geodäsie ist die Vermessung der Erde. Nur durch internationale Zusammenarbeit gelingt es den Geodät_innen, die Erde bestmöglich zu vermessen. Die Voraussetzung dafür ist eine gute Verteilung der Beobachtungsstationen über die ganze Erdoberfläche.
Ein Forschungsgegenstand der Geodäsie ist, zu bestimmen, wie viel der Meeresspiegel ansteigt. Mittlerweile sind das 4mm pro Jahr. Das klingt vielleicht nicht viel, aber wenn man das auf 100 Jahre hochrechnet kommt man fasst auf einen halben Meter. Und leider wird durch den Klimawandel der „Anstiegswert“ in den nächsten Jahren noch höher werden. Beobachtungen haben gezeigt, dass in Grönland beispielsweise jährlich ein paar 100 Gigatonnen Eis abschmelzen und das Schmelzwasser dann den Meeresspiegel ansteigen lässt. Den genauen Wert, um wieviel der Meeresspiegel steigt, wissen wir nur, weil wir mit Satelliten messen, also die Distanz zwischen Satelliten und Meeresoberfläche.
Noch ein anderes Beispiel eines geodätischen Forschungsgegenstands aus dem Bereich der Erdrotation. Durch Beobachtung und Messungen sowie Berechnungen haben Geodät_innen herausgefunden, dass die Erde nicht genau eine Umdrehung pro Tag macht. Sie dreht sich zunehmend langsamer. Alle paar Jahre ist es deswegen notwendig, am Jahresende eine sogenannte Schaltsekunde einzufügen, damit Sonnenstand und Uhrzeit zusammenpassen. In den letzten Jahren dreht sich die Erde allerdings entgegen dem langfristigen Trend etwas schneller, sie braucht also weniger als 86.400 Sekunden für eine Umdrehung. Es ist darum schon länger her, dass eine Schaltsekunde eingefügt werden musste.
Wo begegnen wir Geodäsie im Alltag?
JB: Nachdem Geodäsie sozusagen das Koordinatensystem in die Erde legt, sind wir, ohne es zu merken oder zu wissen, tagtäglich von Geodäsie umgeben. Egal, ob wir Google Maps, die Karten in unserem Smartphone oder irgendeine andere beliebige Straßenkarte verwenden, überall steckt Geodäsie dahinter. Durch die geodätischen Daten ist es möglich am Smartphone eine Genauigkeit von 3-5 Metern bei der Standort-Bestimmung zu erreichen.
Weitere Beispiele wären Grundstücksbesitzer und die Schadensbehebung bei Rohren. Grundstücksbesitzer kommen beispielsweise dann mit Geodäsie in Berührung, wenn sie herausfinden wollen, wo sozusagen auf den Zentimeter genau die Grenzen ihres Grundstücks liegen. Oder sollte es bei einem Kanalrohr einen Schaden geben, der behoben werden soll, macht die Geodäsie ein zentimetergenaues Suchen möglich, um so beim Graben genau zur beschädigten Stelle zu kommen und nicht einen halben Meter weiter entfernt.
Was finden Sie an Geodäsie spannend?
JB: Ich finde es spannend, mich jeden Tag mit der Veränderung unserer Welt beschäftigen zu können. Ich schätze die gute internationale Zusammenarbeit. Unsere Erde ist ja ein vergleichsweise großer Forschungsgegenstand, wir sind daher in unserer Forschung vom Austausch mit den internationalen Kolleg_innen abhängig. Wie gesagt, können wir Figur, Rotation und Schwerefeld der Erde nur dann bestmöglich vermessen, wenn die Messpunkte und Beobachtungsstationen gut über die Erde verteilt sind. Es gehört sicherlich auch zu den Privilegien der Geodät_innen, dass man viel von der Welt sieht, da die Konferenzen oft auf verschiedenen Kontinenten stattfinden.
Welche Voraussetzungen sollten Studieninteressierte unbedingt mitbringen?
JB: Auf jeden Fall ein großes Interesse am Arbeitsplatz Erde. Außerdem sollte eine Neugier für die Fächer Mathematik, Informatik und ein wenig Physik vorhanden sein. Auch das Thema Klimawandel beeinflusst unsere Forschung, vor allem unsere Forschungsbereiche zur Fernerkundung widmen sich diesem Thema.
Hat Geocaching etwas mit dem Forschungsbereich Geodäsie zu tun?
JB: Ja, auch darin steckt unheimlich viel Geodäsie, denn für diese moderne Art der Schatzsuche verwenden die Suchenden einerseits GPS-Geräte oder Smartphones, andererseits Karten als Grundlage dafür den gesuchten Geocache auch zu finden.
Im Rahmen von TUForMath können auch Schüler_innen in den Forschungsbereich hineinschnuppern. Welche Fragestellungen werden mit dieser Altersgruppe erarbeitet?
JB: Wir sind erst seit kurzer Zeit mit dem Workshop „Wie spät ist es – Vom Sonnenstand zur Uhrzeit?“ bei TUForMath, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster dabei. Darin erforschen wir gemeinsam mit den Schüler_innen den Zusammenhang von Uhrzeit und Sonnenstand. Da sich die Erde nicht genau auf einer Kreisbahn sondern auf einer Ellipse in einem Jahr um die Sonne bewegt, passen nämlich der Sonnenstand und die auf Zeitmessern gemessene Uhrzeit nicht immer 100% zusammen. Ob allerdings eine Kreisbahn schon zu einer perfekten, gleichförmigen Zeit führen würde, wird im Workshop geklärt.
Sie sind Leiter des Departments für Geodäsie und Geoinformation. Wie sieht ihr Arbeitsalltag aus?
JB: Wahrscheinlich weniger spannend als sich das die meisten vorstellen. Am Vormittag bin ich meistens mit Lehrveranstaltungen beschäftigt. Besprechungen und E-Mails beantworten stehen am Nachmittag am Programm. Für Forschungsprojekte bleibt nicht so viel Zeit wie ich gerne hätte, aber es freut mich sehr, dass ich mich mit tollen und ambitionierten Dissertant_innen und Kolleg_innen regelmäßig bei unterschiedlichen Forschungsprojekten austauschen kann. Besonders wichtig für meinen Arbeitsalltag ist einerseits das gemeinsame Mittagessen im Besprechungsraum und das Laufen gleich in der Früh bevor der Arbeitstag startet. Das Laufen gibt mir die nötige Frische für den Tag, das gemeinsame Mittagessen ist entspannend und ermöglicht mir raschen und unkomplizierten Austausch mit meinen Kolleg_innen.
Eine Welt ohne Geodäsie, geht das?
JB: Ich wage zu behaupten: geht nicht. Die Hauptaufgabe der Geodäsie ist die Realisierung des geodätischen Referenzrahmens, der die Vermessung der Erde möglich macht. Dieser Referenzrahmen verlangt eine ständige Wartung, ohne die sich unsere Produkte mit der Zeit verschlechtern würden. Die Wichtigkeit dieses Referenzrahmens für uns Menschen wurde mit der Eröffnung des UN-Exzellenzzentrum der Geodäsie, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster in Bonn 2023 einmal mehr unterstrichen.
Vielen Dank für das Gespräch
Neugierig geworden? Am 11. April lädt das Department für Geodäsie und Geoinformation zum GEO-Tag, dem Tag der offenen Tür, ins Freihaus der TU Wien ein. Anhand von praktischen Stationen, Experimenten und kurzen Vorträgen sollen dort die Anwendungsbereiche wie beispielsweise Vermessung, Erdbeobachtung oder Laserscanning den Besucher_innen nähergebracht werden.
Johannes Böhm ist gebürtiger Zwettler. Er hat an der TU Wien Geodäsie studiert und ist seit 2012 Leiter der Höheren Geodäsie. Im Jahr 2020 übernahm er auch die Rolle des Vorstands des Departments für Geodäsie und Geoinformation.
Interview: Sonja Murczek
Geodäsie zum Nachlesen
Webseite Department für Geodäsie und Geoinformation
Artikel Geodäsie in „Mein Job, öffnet eine externe URL in einem neuen Fenster“ des TU Career Centers