Intelligente Beinprothesen
Wenn wir stehen, muss das Knie festen Halt bieten, wenn wir gehen, muss es flexibel sein. Unser natürliches Knie steuern wir ganz automatisch und unbewusst – bei Beinprothesen ist das aber eine komplizierte Sache. Woher weiß die Beinprothese, welche Aufgabe sie gerade erfüllen soll?
An dieser Frage forschte der Elektrotechniker Michael Tschiedel am Institut für Biomedizinische Elektronik der TU Wien, in Zusammenarbeit mit der Firma Ottobock, dem Weltmarktführer im Bereich Prothetik. Er konnte zeigen: Wenn die Prothese Information darüber bekommt, was das andere, gesunde Bein gerade macht, kann sie die Situation und das gewünschte Knie-Verhalten viel besser beurteilen. Für seine Arbeit erhielt Michael Tschiedel am 14.12.2022 den Fehrer-Preis der TU Wien.
Wie geht Gehen?
„Beinprothesen sind nach dem aktuellen Stand der Technik bereits sehr fortgeschritten“, sagt Michael Tschiedel. „Die große Herausforderung, um die Handhabung und Akzeptanz durch die Anwender noch besser zu machen, ist die Interaktion zwischen Mensch und Prothese.“
Bei modernen Beinprothesen kann der Beugewiderstand über eine integrierte Hydraulikeinheit stufenlos geregelt werden. Um den richtigen Regelwert auswählen zu können, muss die Prothese aber wissen, was sie gerade tun soll: Sitzen? Aufstehen? Stehenbleiben? Gehen?
Sensoren in der Prothese überprüfen ständig, in welchem Gangzyklus sich die Person gerade befindet. Liegt sie dabei falsch, kann das unangenehm sein: „Würde das Knie zum Beispiel während des Gehens plötzlich sperren, könnte die Person im schlimmsten Fall stürzen – Sicherheit steht daher an erster Stelle“, sagt Michael Tschiedel.
Bisher griff man bei der Beurteilung der Situation bloß auf physikalische Größen zurück, die direkt in der Prothese gemessen werden können. Die Umgebung wurde dabei nicht einbezogen. „Da gibt es noch viel Verbesserungspotenzial, um Bewegungsabläufe noch natürlicher zu gestalten“, ist Tschiedel überzeugt. Seine Forschungsidee war, der Prothese Information über das andere Bein zur Verfügung zu stellen – dadurch ist eine Steuerung der Knieprothese viel besser möglich.
Sensoren behalten das andere Bein im Blick
Bei selbstfahrenden Autos verwendet man Kameras und Radarsysteme um die Umgebung zu analysieren – ähnliche Technologien können auch für Beinprothesen eingesetzt werden, etwa Ultraschall-Sensoren, mit denen Michael Tschiedel in seiner Dissertation arbeitete. „Mittels Sensoren und einer ausgeklügelten Algorithmik, direkt integriert in die Prothese, weiß das Gelenk genau, wie sich das gesunde, gegenüberliegende Bein bewegt“, erklärt Tschiedel. „Gehen wird dadurch intuitiver und ist physisch und psychisch weniger anstrengend.“
Michael Tschiedel
Michael Tschiedel (28) wuchs in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland auf. An der TU Wien schloss er das Bachelorstudium Elektrotechnik und Informationstechnik 2016 und das Masterstudium Biomedical Engineering 2018 mit ausgezeichnetem Erfolg ab, 2022 promovierte er sub auspiciis Praesidentis rei publicae in Technischen Wissenschaften. Seine Dissertation erarbeitete er unter Anleitung von Prof. Eugenijus Kaniusas industrienah mit der Firma Ottobock Healthcare Products GmbH.
Am 14. Dezember 2022 wurde Michael Tschiedel nun vom Rektorat der TU Wien mit dem Dr. Ernst Fehrer-Preis ausgezeichnet. Dieser Preis wurde von der 2019 verstorbenen Dr. Rosemarie Fehrer gestiftet, der Witwe des Erfinders und Industriellen Dr. Ernst Fehrer. Der Preis wird jährlich für besondere technische Forschungsleistungen mit praktischer Anwendbarkeit vergeben.