Chemische Werkzeuge für die Medizin
In der breiten Gesellschaft assoziiert man Chemie oftmals mit schlecht riechenden Dämpfen, giftigen Chemikalien oder industriellen Prozessen – aber im Forschungsprojekt von Martin Wilkovitsch werden chemische Reaktionen extrem kontrolliert sogar im menschlichen Körper durchgeführt. Wenn man Wirkstoffe in den Körper einbringt, etwa um die Zellen eines Tumors abzutöten, dann sollen Nebenwirkungen so gut wie möglich verhindert werden. Derzeit wird an revolutionären neuen Methoden gearbeitet um dieses Ziel zu erreichen. So kann man etwa inaktive Wirkstoffvorstufen herstellen, die im Körper zunächst keinerlei Bindungen eingehen, bis sie dann mit Hilfe anderer Substanzen aktiviert werden – und zwar genau an der Stelle, an der man das möchte. Diese Art von „bioorthogonaler Chemie“ ist an der Schnittstelle von Biologie und Chemie angesiedelt und hat sich in den letzten Jahren von einer anfänglichen Vision hin zu einer Vielzahl von Anwendungen in den Lebenswissenschaften entwickelt. Sie hat sich kein geringeres Ziel gesetzt, als die molekulare Diagnostik sowie die therapeutische Behandlung von bösartigen Erkrankungen im lebenden Organismus zu revolutionieren.
In der bioorthogonalen Chemie werden chemische Reaktionen genutzt, welche in die körpereigenen biologischen Prozesse weder eingreifen noch diese in irgendeiner anderen Weise stören. Man verwendet Moleküle, die sich an den Vorgängen im Körper nicht beteiligen, bis sie auf aßgeschneiderte Partnermoleküle treffen. Genau dort, wo sich diese Partnermoleküle befinden, kommt es dann zu einer Bindungsspaltung, das ursprüngliche Molekül wird aktiviert. So kann man etwa erreichen, dass eine giftige Substanz erst genau im Tumor ihre Wirkung entfaltet, ohne andere Zellen auf dem Weg dorthin zu schädigen. Auch für Diagnostik und bildgebende Verfahren sind solche Techniken sehr vielversprechend – inzwischen gibt es dazu bereits klinische Studien am Menschen.
Allerdings hat man dabei mit einem schwerwiegenden Problem zu kämpfen: Um den gewünschten Effekt auch bei sehr niedrigen Wirkstoffkonzentrationen zu erreichen, braucht man Moleküle, die sehr schnell miteinander reagieren aber zugleich stabil genug sind um sie im menschlichen Körper nutzen zu können. Solche Moleküle zu entwickeln ist schwierig – und genau in diesem Bereich gelangen Martin Wilkovitsch wichtige Schritte nach vorne.
Wilkovitsch stellte eine Vielzahl chemischer Verbindungen her, sogenannte Tetrazine und trans-Cyclooctene, und untersuchte ihre Charakteristik. Außerdem entwickelte er eine neue, äußerst effiziente Methode, Tetrazine mit Radioisotopen zu modifizieren, um sie auf diese Weise für zielgerichtete Radionuklidtherapie verwenden zu können. Ein neuentwickeltes trans-Cycloocten kann zudem eine chemisch kontrollierte Bindungsspaltung im Körper höchst selektiv, mit bisher unerreichter Effizienz durchführen. Die so designte, neue bioorthogonale Reaktion verläuft um Größenordnungen schneller als mit den Molekülen, die bisher in klinischen Studien eingesetzt werden. Dadurch können komplett neuartige medizinische Strategien und Anwendungen ermöglicht werden.
Die Entwicklung dieses bioorthogonalen Reaktionspartners sowie die Resultate erster Anwendungen konnten auch durch ein Patent geschützt werden.